Kitten, retuschieren, nachbauen
RESTAURIERUNGSATELIER Anke Becker kümmert sich in der Kämmererstraße 65 um alte Skulpturen und Gemälde
Von Marta Thor
WORMS Bei Maria blättert die Farbe ab. Auch das Krönchen der Holzstatue ist etwas zerbröselt. Dem zwei Köpfe größeren Engel, vermutlich einem Erzengel, hat wohl irgendwer die Flügel gestutzt. Anke Becker findet es immer wieder faszinierend, welche Geschichten ihr die Gegenstände erzählen, die ihre Kunden zur Restaurierung in ihr Atelier bringen.
Seit 2006 sitzt die studierte Restauratorin im Schaufenster des Altbaus in der Kämmererstraße 65. »Anfangs war das noch etwas gewöhnungsbedürftig«, lacht die 39-Jährige, doch mittlerweile hat sie sich daran gewöhnt, dass immer wieder Schaulustige stehenbleiben und ihr bei der Arbeit zuschauen oder sogar neugierig die Köpfe in die kleine Werkstatt stecken. In dem weiß getünchten Raum mit Granitsteinboden riecht es nach Farbe und Lösungsmittel. Eine breite Lampe mit Tageslicht strahlt den großen Werktisch in der Mitte an, auf dem Eimer mit Pinseln in allen Größen stehen.
Zur Hälfte Projektarbeit
Zu Anke Beckers wichtigstem Werkzeug gehören außerdem selbst gebastelte Wattestäbchen. »Mein Praktikant lernt gerade, wie man die herstellt«, sagt sie. Die patente Restauratorin hat auch mit einem Praktikum angefangen, bei der Restaurierungswerkstatt Wurmdobler in Erbes-Büdesheim. Ein zweijähriges, studienbegleitendes Praktikum war die Voraussetzung für das fünfjährige Studium an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim. Beckers Spezialgebiet sind Gemälde und Statuen.
Nach ihrem Abschluss im Jahr 2003 war sie eine Zeit lang angestellt in ihrem Praktikumsbetrieb, machte sich 2005 als freie Mitarbeiterin selbständig und gründete 2006 das eigene Restaurierungsatelier. Heute besteht ihre Arbeit zur Hälfte aus eigenen Aufträgen, die über Internet, Empfehlungen oder Laufkundschaft hereinkommen, und durch Projektarbeiten im Team, meist in Kirchen oder an Kunstdenkmälern. Ihr Radius geht dabei von Mainz bis Heidelberg und Bad Nauheim, weiter lohne sich die Anfahrt nicht, erklärt Anke Becker. Derzeit arbeite sie mit acht anderen Restauraroren an einer Ikonostase, einem Altar in einer russisch-orthodoxen Kirche in Bad Nauheim.
Ob wertvolle Kunstgegenstände, Familienerbstücke oder Trödel, bei Anke Becker erfährt jeder »Patient« dieselbe Beachtung. Gerade kittet sie einen Umzugsschaden an einem Rahmen. Dazu zieht sie mit einer Spritze und einer feinen Kanüle einen speziellen Leim auf Acrylbasis auf und spritzt ihn in die feinen Risse. Kitten, Retuschieren, Nachbauen – das Spektrum von Anke Beckers Arbeit ist groß, ebenso auch die preisliche Differenz, die sich je nach Zerstörungsgrad des Gegenstands und des damit verbundenen Arbeitsaufwands richtet. Pro Auftrag muss ein Kunde mit fünf bis sechs Wochen Wartezeit rechnen.
Bisher keine Durststrecken
Durststrecken hat sie seit ihrer Unternehmensgründung nicht, sagt die Restauratorin. Termine macht sie meist nach Vereinbarung aus, denn sie ist ja nicht immer in ihrem Atelier. Für die künsterlisch begabte Wormserin ist die Restaurierung auch immer wieder spannend. Einmal entdeckte sie in einem vergilbten Meer noch ein Ruderboot. Auch das Gewand der Marienstatue war früher nicht rot und blau, sondern silbern.
»Für mich ist die Firnisabnahme am spannendsten, denn da sieht man den Vorher-Nachher-Effekt«, beschreibt Anke Becker den Moment, wenn nach der Reinigung eines Gemäldes die ursprünglichen Farben zum Vorschein kommen. Beschädigte Ecken bessert sie mit Leim-Kreide-Kitt und Aquarell-Farbe wieder aus. »Bei uns muss alles reversibel sein«, erklärt Anke Becker den Restauratoren-Grundsatz. Von eigenen Reinigungsaktionen rät sie dringend ab: »Dann lieber gleich zum Spezialisten kommen oder liegenlassen, sonst ist die Farbe am Ende nur ab«.
Wormser Zeitung | 22. Mai 2015 | Weitere Presse-Artikel